Der Feitel: Eine Legende für den Hosensack
Der kleine Franzi Gerhard war sieben, als er vom Vater den ersten Taschenfeitel bekam. Ein Prachtstück mit grünem Holzgriff, das er stolz seinen neidischen Klassenkameraden präsentierte. Im Frühjahr nutzte er seinen anderthalbstündigen Schulweg nahe dem oststeirischen Friedberg, um mit seinem neuen Klappmesser daumendicke Haselstöcke abzuschneiden, sie mit kunstvollen Schnitt mustern zu verzieren oder daraus Maipfeiferl zu basteln.
Zu diesem Zweck schnitt er ein etwa zehn Zentimeter langes Stück vom Haselstock, schlug die mit Spucke befeuchtete Rinde mit dem Messergriff, bis sie sich wie ein Rohr vom Holz löste. Versehen mit bestimmten Einkerbungen, ließ sich aus Holstecken und Rinde ein Pfeiferl fabrizieren.
Der einzig verbliebene Feitelmacher
Vor einiger Zeit stieß der mittlerweile pensionierte Maschinenschlosser Franz Gerhard, der jetzt in Pregarten im Mühlviertel lebt, beim Kramen in einer Schachtel mit gebrauchten Messern auf seinen alten „Trattenbacher“, wie die Feitel nach ihrem Herkunftsort im Bezirk Steyr-Land auch noch genannt werden. Und es kam ihm die Idee, der nächste Ausflug seines Oldtimervereins könnte ins Tal der Feitelmacher führen. Seit der im Jahr 1998 abgehaltenen Landesausstellung „Land der Hämmer“ über die Eisenverarbeitung in Oberösterreich ist Trattenbach ein Museumsdorf, wo in fünf uralten Häusern noch die originalen Maschinen stehen, auf denen einst Taschenfeitel erzeugt wurden.
Johann Löschenkohl, ein direkter Nachfahre des im 16. Jahrhundert aus dem Elsass zugewanderten Erfinders des Trattenbachers, ist der einzige verbliebene Handwerker im Ort, der noch heute als letzter Österreicher nach alter Tradition jährlich in etwa 30.000 Taschenfeitel erzeugt. Trattenbach liegt in einem engen Seitental der Enns zirka 20 Kilometer südlich von Steyr mitten in der Eisenwurzen. In dem an die 400 Quadratkilometer umfassenden Gebiet im Kalkalpenvorland zwischen dem steirischen Erzberg, dem oberösterreichischen Steyr- und dem niederösterreichischen Erlauftal wurde durch Jahrhunderte Erz abgebaut, verhüttet und verarbeitet.
Der Großteil des einst in Form von Vierkantstäben gelieferten Roheisens stammte aus der Hütte Eisenerz, wo es aus dem Gestein des Erzbergs gewonnen wurde. Fuhrwerker und Flößer brachten die Rohware zu den an Enns und Ybbs gelegenen Verarbeitungsbetrieben. Je weiter nördlich der Betrieb lag, desto hochwertiger waren die daraus hergestellten Produkte.
Einen besonderen Platz unter den Eisenverarbeitern nahmen die „Scharsacher“ ein, die Erzeuger des sogenannten Scharsach-Stahls. Das Wort steht für „Schersache“, die Scharsacher erzeugten also Klingen zum Rasieren. Der dazu benötigte hochwertige Stahl wurde durch wiederholtes Erhitzen im Schmiedefeuer und das Ausschlagen von Verunreinigungen gewonnen. In Steinbach an der Steyr und in Trattenbach existierte schon im 15. Jahrhundert eine Messererzeugung – wie eine gemeinsame Zunftordnung aus dem Jahre 1467 belegt.
Jede Nacht träumte ich vom Taschenfeitel.Peter Rosegger: „Als ich noch der Waldbauernbub war“, Kap. 29: „Als ich auf den Taschenfeitel wartete“
Klappmesser aus der Steinzeit
Die Handwerker von Steinbach produzierten nichtklappbare Stichmesser, die man seitlich am Gürtel hängend trug und unter anderem zum „Woadputzen“ verwendete, zum Reinigen der Viehweiden von Disteln und Sträuchern. An dieser Messererzeugung waren mehrere Zünfte beteiligt, was die Produktion verteuerte. Eine davon war die „Zunft für Messerer und Scharsacher“, zu der auch die Trattenbacher Messerer gehörten. Die mächtigen Zünfte kontrollierten damals nicht nur das Handwerk, sondern das gesamte gesellschaftliche und zum Teil auch das private Leben.
Im Lauf des 16. Jahrhunderts kamen die Scharsacher auf die Idee, nach dem Vorbild des Schermessers ein gleichfalls klappbares Taschenmesser für den alltäglichen Gebrauch zu erzeugen. Es heißt – wie eingangs bereits erwähnt –, dass ein aus dem Elsass zugewanderter Messerer namens Bartholomäus Löschenkohl aus Steinbach nach Trattenbach zog, um dort ebenfalls klappbare Taschenmesser herzustellen.
Umstritten ist, ob er der wirkliche Urahn des Trattenbacher Taschenfeitels ist. Denn nach einer zweiten Theorie ist die Idee viel älter: Archäologen fanden in einem Gräberfeld oberhalb von Hallstatt ein klappbares Messer aus der Frühen Eisenzeit (800 bis 450 v. Chr.), das große Ähnlichkeit mit dem Taschenfeitel aufweist. Jedenfalls waren die in Trattenbach hergestellten Taschenmesser hochwertig, praktisch und preiswert – und daher bald ein Renner.
Weil das Herstellen von Taschenmessern in der Zunftordnung nur mangelhaft geregelt war, kam es zu häufigen Streitereien mit der Steinbacher Zunft. Daher wollten die Trattenbacher die Bevormundung abschütteln und ihre eigene Zunft gründen, andernfalls würden sie das Land verlassen, so ihre Drohung.
Im Jahr 1682 verlieh ihnen Kaiser Leopold I. schließlich das Privileg, die Berufsbezeichnung „Messerer von Stock und Stein“ zu tragen. Das bedeutete, dass sie – im Unterschied zu anderen Messerern – ihren Beruf innerhalb einer Zunft ausüben durften. Demnach konnten sie schmieden (am Stock), schleifen (am Stein), polieren, drechseln und alle Einzelteile zu einem Messer montieren, also den kompletten Taschenfeitel unter einem Dach erzeugen.
Jede Maschine im Haus mit Wasserkraft
Wie das ursprünglich geschah, demonstriert Johann Löschenkohl in seinem Trattenbacher Schaubetrieb. In dem etwa 400 Jahre alten dreistöckigen Gebäude riecht es nach Schmieröl und Eisen. Im mächtigen Gebälk, an dem die Antriebsräder für die schweren Maschinen befestigt sind, nisten rußige Spinnweben. Als Erstes muss Johann Löschenkohl die vom Trattenbach gelieferte Energie auf seine Maschinen lenken. Der Wasserlauf hat auf knapp vier Kilometer Länge ein Gefälle von 480 Metern und eine durchschnittliche Schüttkraft von etwa 60 Sekundenlitern. Um witterungsbedingte Schwankungen auszugleichen, wird das Wasser erst in einen Vorfluter und von dort durch ein Druckrohr auf ein Schaufelrad geleitet. Über mehrere Räder und Treibriemensysteme lässt sich die dabei erzeugte Energie auf jede gewünschte Maschine des Hauses übertragen.
Der Feitelmacher klemmt sich seinen Lärmschutz an die Ohren und setzt mit einem Kupplungshebel die Hammermaschine in Gang, bis das ganze Gebäude bebt und der rhythmische Lärm im ganzen Tal zu hören ist. Unter dem Hammer schmiedet er nun das Roheisen, bis es die gewünschte Klingenform erreicht. In der heutigen täglichen Produktion wäre dieses Verfahren zu aufwendig, daher stanzt er die Klingen aus rostfreiem Stahlblech, bevor er sie schleift und poliert.
Das Schleifen der Klinge am Schleifstein war in früheren Zeiten eine äußerst ungesunde Tätigkeit. Weil die Messerschleifer tagaus, tagein den Stein und den Metallstaub einatmeten, starben viele von ihnen vor der Zeit. In der Drechslerei werden aus Ahorn oder Buchenholz die Feitelgriffe hergestellt. Ursprünglich waren die Griffe schmucklos gerade, erst später setzten sich die als „Franzosen“ bezeichneten geschwungenen Formen samt einzelnen Querrillen durch.
Zuerst wird das Holz in gleich große Stücke gespalten, aus denen sich dann auf der Stanzmaschine jeweils fünf oder sechs Rohlinge gewinnen lassen. Anschließend wer den die Rohlinge in die Drechselmaschine gespannt und bei hoher Drehzahl innerhalb von ein, zwei Sekunden mittels speziell geformter Messer in die gewünschte Form gebracht. Schließlich schneidet ein Sägeblatt jenen Längsschlitz in den Griff, in dem später die geschärfte Seite der Klinge verschwindet. Das Drechseln und Färben der Griffe sowie die Montage der Klinge oblag früher den Frauen und Kindern.
Das Museumsdorf ist eines von wenigen Projekten, die die Landesausstellung überlebt haben. „Leider als einziges“, sagt Volkskundlerin Eva Kreissl vom Grazer Joanneum, die vier Jahre lang die Kulturgeschichte des Taschenfeitels erforschte und darüber mehrere Schriften verfasste. Zusammen mit Roman Blasl, dem heutigen Museumskustos in Trattenbach, und Einwohnern des kleinen Ortes leitete sie zwischen 1994 und 1998 auch die lokalen Aufbauarbeiten für die Landesausstellung.
Als Schaufelräder die Energie lieferten
Laut Eva Kreissl hätten etliche der im Zuge der Landesschau aufgebauten Projekte eine Weiterführung als touristische Einrichtungen verdient, wie es ursprünglich geplant war, aber das Land habe daran kein Interesse gezeigt.
Die Trattenbacher nahmen die Sache selber in die Hand und gründeten einen Verein, der das Museumsdorf von Mai bis Oktober betreibt. Sie leben heute vom Tourismus, von Produktion und Verkauf der Taschenfeitel, betreiben ein kleines Buffet, einen Souvenirshop und einen Spielplatz, auf dem die Kinder erleben können, wie das Wasser als Energiespender die Schaufelräder der Werkstätten in Gang gehalten hat.
Voll Stolz erzählen sie von der 500-jährigen Geschichte des Taschenfeitels und vom Wohlstand, den ihnen das bis nach Afrika und Asien vermarktete Produkt gebracht habe. Nur nebenbei wird erwähnt, dass sich einige der einstigen Taschenfeitelbetriebe, darunter Hack-Stainless und die Firma Stübinger, mit der Zeit zu hochmodernen Unternehmen entwickelt haben, die unter anderem Komponenten für die Fahrzeugindustrie liefern. Das Museumsdorf Trattenbach ist Teil der österreichischen Handwerks-, Industrie- und Kulturgeschichte mit jährlich zwischen 4.000 und 6.000 Besuchern.
Pensionist Franz Gerhard hat seinen Ausflugsplan verwirklicht. Am 9. Mai fuhren er und seine Freunde mit ihren Oldtimern gemeinsam nach Trattenbach. Bei der Führung durchs Museumsdorf wurden die alten Bilder und Gerüche wieder wach: von der Schnur, die den Feitel an die Hose band; vom Jausenspeck, den er so wunderbar schnitt; von der saftigen, nach Frühling duftenden Rinde, in die er das Herzerl mit den Initialen schnitzte.
Nachher kaufte sich jeder der alten Herren einen neuen Taschenfeitel. Das Messer in der Hand fühlte sich an wie ein Stück Kindheit.
Taschenfeitel-Manufaktur Löschenkohl
Hammerstraße 15
4458 Trattenbach
Tel: +43/7256/8354
www.loeschenkohl.at
15x nach Hause bekommen & nur 12x bezahlen
Wunsch-Startdatum wählen
Kostenlose Lieferung nach Hause
Mindestlaufzeit: 12 Ausgaben
Ohne Risiko: Jederzeit zum Monatsletzten unter Einhaltung einer 4-wöchigen Kündigungsfrist schriftlich kündbar. (Nach Ende der Mindestlaufzeit)