Die Heilpflanze Holunder
Weiße Schneeflocken-Blüten im Frühjahr, blauschwarze Beeren zur Ernte. Wie keine andere Heilpflanze verkörpert der Holunder in seinem Wesen Neubeginn und Ende.
Groß ist die Begeisterung der Menschen für den Holunder wenn er blüht, verbinden wir dies doch mit der Zeit, wo der Frühling alle Pflanzen strahlen lässt. Früher wuchs in jedem Bauernhof ein Hollerstrauch. Der Schwarze Holunder folgte dem Menschen überall hin, als wollte er von ihm adoptiert, gehegt und gepflegt werden. Man könnte ihn in der Sprache der Botaniker als eine anthropochore Pflanze bezeichnen, also (aus dem Altgriechischen abgeleitet) als eine Pflanze, „die mit dem Menschen tanzt“.
Sagenumwobener Strauch
Diesen Hofholunder betrachtete man als Sippenbaum, als Baum, in dem die Seelen der Ahnen wohnten und so wie die Frau Holle, die ebenfalls in diesem Baum saß, die Familie vor Unglück und Schaden schützten. Frau Holle oder Holda nannte man diese Göttin und war der Meinung, dass ihr Name den gleichen Ursprung wie die noch heute gebräuchlichen Worte hold oder Huld habe und dass auch der Name des Holunders daher stammt.
Die Sprachwissenschaft bezweifelt dies allerdings. Der Name stammt ihrer Meinung nach von den alten indogermanischen Wortwurzeln für „schwarzer Baum“. Dennoch wurde der Baum in ganz Nordeuropa mit Hochachtung als „Frau Holler“ angesprochen.
Der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl ist diplomatischerweise der Meinung, dass der schwarze Baum auch der Baum der schwarzen Göttin ist, denn Frau Holle war bei den Kelten die Erdmutter, die Schwarze Göttin. Die Holle zeigt sich im Laufe des Jahres in zwei Gestalten: als Lichtjungfrau Brigid zu Beginn des Jahres und als Totengöttin Frau Percht im Winter.
Diese zwei Seiten findet man auch beim Holunder, der im Jahreslauf sein Erscheinungsbild eindrucksvoll wechselt. Im Frühjahr zeigt er Blüten, so weiß und filigran wie Schneeflocken, die, wenn sie verblüht sind und zu Boden fallen, wie eine Schneedecke dort liegen. Im Spätsommer trägt der Holunder fast schwarze Beeren, deren Saft lang anhaltend und dunkel färbt wie Pech.
Die alte Signaturenlehre, die Kunst, von der Paracelsus meinte, dass sie helfe, „das Wesen der Natur im Grunde zu erfassen“, zeigt mit der Farbe Weiß und dem besonderen Duft der Blüten die Signatur des Mondprinzips, die Signatur des Neubeginns.
Ein Märchen voller Symbolkraft
Das Gegenstück des Mondes, der Saturn, zeigt nicht nur in den dunklen Beeren, sondern auch durch das trockene, spröde Holz seine Signatur. Mond und Saturn stehen für Anfang und Ende und zeichnen die Übergänge in die Anderswelt, die ja das Reich der Frau Holle ist. So zeigt uns der Holunder in seinem Wesen diese Gegensätze: Er ist gleichzeitig der Strauch der Geburt und des Todes.
Wohl jeder kennt das Märchen von der Frau Holle. Ihr grünes Reich ist zugleich das Totenreich. Die brave Marie, die auf der Suche nach der Spindel in den Brunnen springt, begibt sich damit in eine Anderswelt, in die auch jene gelangen, die ihren „Lebensfaden“ verloren haben. Marie pflückt dann die reifen roten Äpfel und holt die fertig gebackenen Brote aus dem Ofen.
Symbolisch stehen die Äpfel für die Seelen kurz vor der Wiedergeburt, und der Ofen mit den Brotlaiben ist das Bild des warmen Mutterschoßes, in dem sich die Seelen auf ihre Ankunft auf der Erde vorbereiten. Wenn es dann Zeit ist, wiedergeboren zu werden, schickt Frau Holle die Kinderseelen auf die Erde, da sitzen sie dann, warten darauf, dass die künftige Mutter den Hollerbusch berührt, und singen:
Ringel, ringel, reia, Sind ma unser dreia, Sitzen unterm Hollerbusch, Rufen alle husch, husch, husch
Der Holler durfte nicht gefällt werden
Der Holunder spielte als Baum der Totengöttin eine große Rolle in keltischen, germanischen und slawischen Kulten. Vielerorts war es Brauch, die Verstorbenen auf Hollerzweige zu betten, oder es wurde ein Kreuz aus Holunder in den Sarg gelegt. In Tirol trug man ein Kreuz aus Holunderholz vor dem Leichenzug und steckte es auf das frische Grab.
Der Holunder sollte als Sippenbaum neben dem Haus wachsen, um den Ahnen nahe zu sein. Daher betrachtete man es als schlechtes Omen, wenn der Holunder verdorrte, es deutete darauf hin, dass bald ein Familienangehöriger sterben könnte.
Der Holunder als Baum der Frau Holle durfte auch nicht gefällt werden. War es unumgänglich, einen wuchernden Holunder zu stutzen, musste man in der Vollmondnacht zur Holunderfrau gehen und sie um Erlaubnis bitten.
Die Kirche hatte natürlich ein mehr als zwiespältiges Verhältnis zur Göttin; so hieß es zum Beispiel, dass die Rinde des Baums voller Schrunden sei, weil der Heiland mit Holunderzweigen gegeißelt wurde. Zum schlechten Ruf des Baums trug auch die Geschichte bei, dass sich angeblich Judas an einem Holunderast erhängte, nachdem er Jesus verraten hatte. Als Erinnerung daran soll der Strauch einen leichenartigen Geruch ausstrahlen. Ein weiterer Nachklang zu dieser Geschichte ist, dass der an den Stämmen wachsende Speisepilz Judasohr heißt. Doch trotz dieses unschönen Namens ist das Judasohr ein interessanter Speisepilz und gilt in der chinesischen Medizin als Heilmittel gegen Bluthochdruck und Thrombosen.
Wichtigste Heilpflanze
Auch wenn versucht wurde, aus der holden Göttin „Teufels Großmutter“ zu machen und der Holler zum „teuflischen Baum“ wurde, den Glauben an seine Heilkraft konnte man dem Volk nicht nehmen. Auf dem Land war der nahe am Haus wachsende Holunder die wichtigste Heilpflanze. Vom Holunder gibt es einen geflügelten Spruch:
Rinde, Beere, Blatt und Blüte,
Jeder Teil ist Kraft und Güte,
Jeder segensvoll.
In der Volksmedizin wurden also alle Teile des Holunders genutzt, wie auch in einem Kräuterbuch aus dem 17. Jahrhundert nachzulesen ist:
Die Wurzeln in Wein gesotten und getrunken, treiben die Wassersucht gewaltig aus.
Die Blätter in Wein gesotten, den getrunken, benimmt alle überflüssige Feuchtigkeit und
ist den Wassersüchtigen sehr nützlich. Die Rinde in Wein gesotten, so sie noch grün ist, das getrunken, machen erbrechen. In Salzwasser gesotten, benimmt die Geschwulst der Füße.
Eine derart „heroische“ Arznei ist aus heutiger Sicht nicht mehr zu empfehlen. Ebenso wenig wie der Ratschlag von Albertus Magnus (ca. 1250 n. Chr.), dass die innere Rinde, von oben nach unten geschabt, abführend wirkt, von unten nach oben geschält dagegen zum Erbrechen führt.
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