Der letzte Nachtwächter
Helmut Egartner, ein Osttiroler Original, dreht seit 20 Jahren unermüdlich spätabends seine Runden durch sein Heimatdorf Obertilliach. Er ist der Letzte seiner Zunft: Ein waschechter Nachtwächter.
Seit dem Jahr 2000 ist er zweimal in der Woche ehrenamtlich unterwegs, im Winter sogar an vier Abenden, um das Dorf vor Bränden zu schützen. Denn die Angst vor dem Feuer sitzt tief in dem alten Haufendorf.
Eine Tradition entsteht
Auf stolzen 1450 Metern thront Obertilliach zwischen den Lienzer Dolomiten und den Karnischen Alpen. Dem Klima sagt man nach, dass es rauer als anderswo ist, mit frühen Herbstfrösten und langen Wintern. Ebenso rau wie das Klima ist auch die Landschaft.
Bereits in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurde Obertilliach urkundlich das erste Mal erwähnt, da war es noch eine Pferdealm. Später, im 14. Jahrhundert, bauten die Bauern ihre Holzhäuser ganz eng aneinander, um das Dorf leichter gegen Feinde verteidigen zu können. „Damals kam es immer wieder zu Überfällen von italienischen Räuberbanden, die es auf unsere Pferde abgesehen hatten“, erzählt der Helmut. Also installierte man Wachpersonen, die das Dorf vor Bränden beschützen und nach dem Vieh Ausschau halten sollten. Die Räuberbanden sind im Laufe der Jahrhunderte verschwunden, was geblieben ist, ist der größte Feind eines eng zusammengebauten Dorfes: das Feuer. Und genau deshalb besteht in Obertilliach seit Jahrhunderten die Tradition des Nachtwächters.
Raus bei Wind und Wetter
Der Schnee kam über Nacht. Stundenlang wirbelten schwere Flocken vom Himmel und überzogen Obertilliach bis Mittag mit einer dicken weißen Schneedecke. Nun ist es Abend geworden und das Thermometer zeigt minus 14 Grad an. „Nur minus 14 Grad“, wie Helmut Egartner mehrfach betont. Immerhin hat er auch schon Temperaturen jenseits von minus 30 Grad erlebt. Mit schwerem Atem stapft er durch die Gassen des 700-Seelen-Dorfes. Der Schnee knirscht schwer unter jedem seiner Schritte. Über ihm berühren sich fast die Dächer, so eng stehen die Holzhäuser nebeneinander.
In der einen Hand hält Helmut Egartner eine Laterne, die ihm auf den dunklen Wegen Licht spendet; die andere umklammert seine Hellebarde, eine Hieb- und Stichwaffe aus Fichtenholz. „Ihr Bauern und Herrn loust auf und lasst euch sagen, der Hammer an der Uhr hat 8 Uhr geschlagen“, stimmt er das Lied des Nachtwächters an, „gebt fleißig Acht auf Feuer und Liacht, dass uns Gott und unsre liabe Frau behiat.“
Ihr Bauern und Herrn loust auf und lasst euch sagen, der Hammer an der Uhr hat 8 Uhr geschlagen, gebt fleißig Acht auf Feuer und Liacht, dass uns Gott und unsre liabe Frau behiat.Helmut Egartner
Wenn der Zufall Schicksal spielt
„Ich selbst hab‘ ja eigentlich gar nie Nachtwächter werden wollen“, verrät der Helmut lachend. Einst kehrte er nach der Arbeit im Gasthaus Unterwöger ein, wo er vernahm, dass der Ort einen neuen Nachtwächter suche, weil der alte erkrankt sei. „Das Brauchtum und die Tradition unseres Ortes müssen erhalten bleiben“, hörte er sich damals zu fortgeschrittener Stunde sagen. Und: „Singen kann ich und tue ich auch gerne.“ Tage später erschrak er nicht schlecht, als er der lokalen Zeitung vernahm, dass Obertilliach einen neuen Nachtwächter gefunden habe. Dessen Name: Helmut Egartner. 20 Jahre ist das nun her, und die ersten zehn Jahre waren für den heute 73-Jährigen eine ganz schöne Herausforderung, schließlich musste er nach einem langen Arbeitstag als LKW-Fahrer abends auch noch auf seinen Geburtsort aufpassen – und das bei Wind und Wetter. „Aber daheim wartet eh niemand auf mich“, tröstete er sich damals. Seine Frau hatte der Helmut nämlich schon in jungen Jahren verloren.
Der kalte Wind trägt das Läuten der mächtigen Kirchenglocken durch die Gassen. Neunmal schlägt die Uhr. „Ihr Bauern und Herrn loust auf und lasst euch sagen, es hat 9 Uhr geschlagen“, singt der Helmut nun. Seine Runde durch das Dorf beginnt und endet beim Kirchplatz und dauert ungefähr eine Stunde, kann aber – je nach Anzahl der Einkehrschwünge – auch zwei bis drei Stunden betragen. Im Gasthof Unterwöger, dem denkmalgeschützten Dorfwirtshaus, das im 18. Jahrhundert vom Tiroler Freiheitskämpfer Ignaz Peter Valtiner als Bauernhof erbaut worden war, hängt der Helmut seine Lodenrobe und den dunklen Hut ab. Schwer lässt er sich in den Barhocker fallen und bestellt einen roten Spritzer.
Was man als Nachtwächter mitbringen muss
„Drei Eigenschaften muss ein Nachtwächter haben“, verrät er und seine blauen Augen blinzeln listig, „er muss schweigsam sein, er muss wachsam sein und er muss trinkfest sein.“ Sagt’s und nimmt einen großen Schluck.
„Wir sind wirklich heilfroh, dass der Helmut unser Dorf beschützt“, meint Wirt Sepp Lugger, während er ihm ein neues Glas einschenkt. Tatsächlich hat der Helmut schon mehrere Brände entdeckt und auch gelöscht. Ein Mal hatte sich das Heu in einem Stadel selbst entzündet, ein anderes Mal war bei einem frischen Grab auf dem Friedhof neben der barocken Kirche nachts unbemerkt ein Brand ausgebrochen. Vermutlich war ein Grablicht umgefallen. Und als zur Weihnachtszeit 2016 wieder auf dem Friedhof ein Adventskranz zu brennen begann, da konnte der Helmut die Flammen mit seinem Mantel ersticken.
Nachtwächter und Dorfführer zugleich
Der Helmut ist aber nicht nur ein Nachtwächter, er ist auch ein wandelndes Lexikon. Immer wieder begleiten Besucher den Helmut auf seinen nächtlichen Runden. Ihnen verrät er, dass Obertilliach erst 1934 an das Stromnetz angeschlossen wurde; dass im Winter 1950/51 so viel Schnee im Ort lag, dass man zu Fuß von einem Dach zum anderen steigen konnte; und dass der Jahrhunderte alte Ortskern im Jahr 1978 zur Schutzzone erklärt worden ist.
Am liebsten erzählt er aber von seiner Hellebarde, die ihm ein Kunstschmied angefertigt hat. In Österreich muss man für deren Besitz ein Leumundszeugnis vorlegen und ein Gelübde ablegen. Schließlich eignet sich eine Hellebarde im Kampf gleichermaßen zum Schlagen, Stechen und Reißen. Noch heute verwendet die Schweizergade im Vatikan Hellebarden als Zeremonialwaffen. Doch zum Kämpfen ist der Helmut zu alt und zu müde.
Ich suche einen Nachfolger, 20 Jahre sind genug. Ende 2020 höre ich auf. Hoffentlich gibt es bis dahin einen.Helmut Egartner
„Ich suche einen Nachfolger“, sagt er. „20 Jahre sind genug. Ende 2020 höre ich auf. Hoffentlich gibt es bis dahin einen.“ Doch der ist bisher nicht in Sicht. Stirbt damit in Obertilliach gar eine Jahrhunderte alte Tradition aus? Das Glas ist leer. Nachtwächter Helmut Egartner zieht seine Lodenrobe an, setzt sich den Hut auf und greift nach seiner Hellebarde mit dem blank gewetzten Haken für die kerzenbeleuchtete Laterne. Und dann stapft er wieder hinaus in die Nacht, wo ihn die dunklen Gassen verschlucken.
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