Die traditionellen Samson-Umzüge in Tamsweg
Die Schwachstelle des Samson ist sein Hals. Von den 105 Kilo, die der 6 Meter große Riese derzeit wiegt, entfallen nämlich rund 25 auf seinen Kopf. Und der steckt auf einem dünnen Stab mit bloß 5 Zentimeter Durchmesser. Der Hals des Samson kann daher leicht brechen. Servus in Stadt & Land war 2012 bei dem großen Umzug dabei. Autorin Michaela Ernst hat das Erlebte festgehalten und damals mit den Machern gesprochen. Hier finden Sie Informationen zu den aktuellen Umzügen.
Gott sei Dank ist das aber noch nicht passiert. Zumindest bis jetzt. Und so hofft man hier in Tamsweg, dass das auch weiterhin so bleibt. Ebenso wie in den neun anderen Gemeinden des Lungaus und in den zwei der angrenzenden Steiermark, überall dort also, wo alljährlich die traditionellen Samson-Umzüge stattfinden. Denn die faszinierenden Veranstaltungen dauern ja noch bis Ende September. Und der Genickbruch eines Samson würde das Schauspiel ganz schön durcheinanderbringen.
Der letzte Richter
Jede Gemeinde hat freilich ihre eigene Figur – die der Tamsweger ist aber die Imposanteste. Ihr Samson ist nicht nur der höchste und prächtigste, sondern mit seinen 301 Jahren auch der älteste. (Stand 2021)
Bibelfeste Menschen wissen, dass Samson im alten Testament der letzte Richter war. Er hatte übermenschliche, in seinen Haaren liegende Kräfte, die er allerdings verlor, als er von seiner Geliebten Delilah verraten wurde. Symbolisch stellt er den Kampf der Juden gegen die Philister dar.
Schön und gut, aber was hat das alles mit dem Lungau zu tun?
Anton Heitzmann, Kustos des Lungauer Heimatmuseums Tamsweg, gibt kurzweiligen Geschichtsunterricht: Demnach habe der Salzburger Erzbischof Paris Lodron 1633, als in Zeiten der Reformation viele enttäuschte Katholiken bei den Lehren Martin Luthers Zuflucht fanden, ein paar Kapuzinermönche nach Tamsweg entsandt. Sie sollten die Bevölkerung für die Kirche zurückgewinnen. „Weil die Leute damals aber weder lesen noch schreiben konnten, musste man ihnen Inhalte über Bilder vermitteln“, erzählt Heitzmann.
Die Missionstätigkeit der Ordensbrüder beschränkte sich daher im Wesentlichen auf die Inszenierung theatralischer Prozessionen, in die die Bevölkerung eingebunden war. Die Rechnung ging auf: „Das Motto Brot und Spiele brachte dem Katholizismus nicht wenige Menschen zurück.“
Und dann kamen die Zwerge
1782, als Hieronymus Graf Colloredo dem Salzburger Erzbistum vorstand, war dann plötzlich Schluss mit lustig. Das fröhliche Treiben wurde für Jahrzehnte unterbrochen, weil es dem sparsamen Erzbischof missfiel. „Ein anständiger Katholik lässt das Feiern bleiben und besinnt sich der wahren Tugenden des Menschen“, postulierte er – und die Tamsweger hielten sich daran. Allerdings nur, bis der gute Mann 1803 abtreten musste. Kaum war er weg, wurden die Samson-Umzüge wieder eingeführt.
Unmittelbar danach sorgten sie sogar für Figurennachwuchs: 1804 kamen die Zwergerln ins Spiel, die Sonne und Mond darstellen. „Damit der arme Samson nicht so allein bleiben musste“, sagt Heitzmann.
Viel Pflege und ein Kraftakt
Sechs Männer beugen sich jetzt über den Riesen, der im Heimatmuseum aufgebahrt ist: Peter Schitter, der Obmann der Tamsweger Samson-Gruppe, Christian Gappmaier, der die Figur später auf seinen Schultern balancieren soll, und weitere vier junge Männer, die ihn bei diesem Kraftakt unterstützen werden. Sie alle haben ein Handwerk gelernt und hegen und pflegen ihren Samson mit all ihrem Können und ihrer Kreativität. Schließlich soll die wertvolle Figur beim Umzug nur ja keinen Schaden nehmen. Immerhin stammt der Kopf aus dem Jahr 1720, der restliche Körper aus 1900. Die Worte der Männer sind kurz, ihre Blicke lang – wie ein eingeschworener Wissenschaftlerkreis tauschen sie sich aus über das, was zu tun ist.
"Wenn einer in den Samson schlüpft, kennt man gleich ob er das G'fühl dafür hat - und die Kraft, mit 105 Kilo am Buckel zu gehen und zu tanzen."Christian Gappermaier, Träger des 105 Kilo schweren Samson
Nässe ist lebensgefährlich
Auch nass darf der Samson nicht werden. Das ist lebensgefährlich. Vor allem für den Mann, der unter dem langen Wallegewand steckt und quasi blind einen 2-Kilometer- Marsch mit 105 Kilo auf dem Buckel hinlegen muss. „Ich habe zwar einen Sehschlitz, durch den ich geradeaus rausschauen kann, aber was sich direkt vor und unter meinen Füßen abspielt, sehe ich nicht“, erklärt Gappmaier. Dazu braucht er seine vier Kollegen, die ihn flankieren und ihn nach jedem kleinen Tänzchen unterstützen.
Sie sind auch seine „Copiloten“, die warnen: „Achtung Kanaldeckel!“, „Schlagloch!“, „Vorsicht Stromleitung!“ und so weiter. Kommt zu diesen Unwägbarkeiten auch noch Regen hinzu, gleicht die Straße einem Seifenparcours. Außerdem säuft sich die Kleidung des Riesen an, „dann ist der Samson innerhalb kürzester Zeit doppelt so schwer“, weiß Gappmaier. Die Veranstaltung würde dann im wahrsten Sinn des Wortes ins Wasser fallen.
Kräfte, die mach einfach hat
Heute aber hat man Glück. Während es im restlichen Österreich geschüttet hat, öffnet sich ein gigantisches blaues Feld über der 5.700-Seelen-Gemeinde.
Gappmaier ist der Held des Umzugs im neunköpfigen Verein. Auch wenn er gar nicht als ein solcher dargestellt werden will. Aber der Träger ist immer der Held. Weil er wie der Samson über schier übermenschliche Kräfte verfügt. „Die kann man sich nicht antrainieren, die hat man“, sagt der 23-Jährige. Genauso wie das Balanceempfinden, das man zwingend braucht, um den Riesen richtig aufschultern, transportieren und vor jedem Wirtshaus ein Tänzchen wagen zu können. „Wenn einer in die Figur hineinschlüpft, kennt man gleich, ob er’s G’fühl hat oder nicht“, behauptet Gappmaier. Er hat es im kleinen Finger. Und stark ist er auch. „Durch meinen erlernten Beruf als Zimmerer hab ich relativ oft mit schweren Sachen zu tun, deshalb brauch ich kein Extratraining“.
Bevor er sein „Amt“ zum ersten Mal antrat, traf er sich mit der restlichen Truppe fünf- bis sechsmal auf dem großen Gemeindeparkplatz zum Probemarschieren und Probetanzen: „Das hat gereicht.“
Lange kann ein Samson-Träger diese Last ohnehin nicht stemmen. Drei bis vier Jahre genießt er im Schnitt die bewundernden Blicke der Mädels und Burschen, Frauen und Männer in den Zuschauerreihen. Eine Verlängerung würde den Bewegungsapparat zu sehr strapazieren. Dann kommt der Nächste dran, mit sechs bis sieben Auftritten pro Jahr.
Peter Schitter, der Vereinsobmann, begibt sich heuer in seine letzte Ehrenrunde: „Ich bin seit zwölf Jahren dabei und mittlerweile über 30 Jahre alt. Wird Zeit, dass Jüngere zum Zug kommen“, meint er ohne Wehleidigkeit. Die Tamsweger Samson-Gruppe war immer schon eine sehr junge, so möge es auch bleiben.
Wer heiratet, scheidet aus
Allein die Aufnahmekriterien verhindern, dass es zu einer Überalterung kommt: Mitglieder dürfen nämlich nicht verheiratet sein. „Man muss sich halt entscheiden können – Frau oder Samson“, sagt Schitter schmunzelnd. „Sollte doch wer heiraten, kriegt er noch ein letztes Jahr geschenkt, dann ist’s vorbei.“
Auch Schitter war in ganz jungen Jahren Samson-Träger. Heute steckt er in einem der zwei Zwergerl-Kostüme, die mittlerweile genauso populär sind wie der Umzugsriese selbst: „Die Zwergerln tanzen um den Samson herum. Am liebsten mag das Publikum, wenn sie einander küssen oder ihre Popscherln aneinanderreiben“.
Das Publikum kommt oft von weit her. Erst recht, wenn sich überhaupt alle zwölf Samsons hier versammeln – was aber nur alle sechs Jahre der Fall ist. Sprachen aus aller Herren Länder hört man dann.
Das G'wand wird weitergegeben
Aber auch, wenn wie heuer nur ein Samson auf Reisen geht, ist die ganze Bevölkerung auf den Beinen. Treffpunkt ist vor dem Heimatmuseum. Peter Schitter, Christian Gappmaier, die vier Helfer und der Mann, der ins zweite Zwergerl-Kostüm schlüpfen wird, haben sich in Schale geworfen: Sie tragen Lederhosen, kornblumenblaue Strickstutzen und braune Joppen mit blauen Stickereien: „Die Tamsweger Samson-Gruppe hat ihre eigene Tracht. Wenn einmal einer ausscheidet, gibt er sein G’wand an den Nachfolger weiter“, sagt Schitter.
Christian Gappmaier lässt vorerst noch seine Joppe liegen. Er trägt ein weißes T- Shirt, legt sich Pferdedecken um Hüften und Schultern, wo später das Samson-Gerüst aufliegt. Schitter schnürt ihm den Tragegürtel um, die Musik beginnt zu spielen.
Die ersten Minuten verharrt Gappmaier fast regungslos im Ausfallschritt, bis sein Körper mit dem des Riesen verschmolzen ist. Dann geht es los zum Knappenwirt, wo Frau Lüftenegger, der Besitzerin, ein Geburtstagsständchen gespielt wird. Der Samson setzt zum Walzer an, zwei große Drehungen, einmal links, einmal rechts, ein kurzes Stabilisieren durch die Copiloten, ein Schluck Wasser, den Gappmaier durch den Sehschlitz gereicht bekommt, und schon geht’s weiter zum nächsten Wirtshaus.
Weiter, weiter, eineinhalb Kilometer hat der Samson noch vor sich. Vorbei an Reifenservice, Bestattungsunternehmen und den örtlichen Tankstellen. Weiter über die Brücke, dann hinein in eine kleine Straße, durch eine Wohnsiedlung, wo die Menschen staunend an ihren Zäunen stehen. Weiter bis zur großen Wiese und zum Festtagszelt.
Hier wird der starke Herr Gappmaier vom biblischen Wesen mit den übermenschlichen Kräften befreit. Er ist völlig durchschwitzt, strahlt aber über das ganze Gesicht. Und während er dankbar nach einem gut gefüllten Bierkrug greift, rufen die Menschen: Bravo, bravo, bravo!