Von Sympathiemedizin und Pflanzenheilkraft
Volksmedizin verbindet man meist nur mit den vielfältigen Anwendungen von Heilpflanzen. Doch das Spektrum war viel breiter. Erstens weil tierische und mineralische Substanzen ebenso zum Einsatz kamen. Zweitens weil früher auch Magie helfen sollte (und manche bis heute meinen, sie hilft). Segens-, Heil- oder Zaubersprüche zum Beispiel. Oder Besprechungen, Beschwörungen und Rituale.
Man sollte solche Praktiken nicht nur als Aberglaube abtun. Ursprünglich wurden sie auch nicht als Handlungen „gegen den Verstand“ gesehen, sondern als Maßnahmen, die „über den Verstand hinaus“ gehen. Außerdem bedeutete Aberglaube früher nur, dass man an etwas „Übersinnliches“ glaubte. Erst im Christentum wurde daraus der Glaube an falsche Kräfte und somit der Irrglaube.
Eine der Grundlagen des volksmedizinischen Denkens und Handelns bildete jedenfalls der Glaube an eine „Sympathie des Alls“. Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, das Wasser – in der Natur hängt alles auf geheimnisvolle und unlösliche Art und Weise zusammen. Alles ist mit allem verbunden und steht in einem Verhältnis von Sympathie oder Antipathie.
Unter Sympathie versteht man heute, ein positives Gefühl für jemanden zu haben. Im ursprünglichen Sinn setzte sich das griechische Wort sympatheia aus syn (mit) und pathos (Leiden) zusammen und bedeutete Mitleiden.
Die Grundlage der Sympathiemedizin war der Gedanke, dass man Krankheiten auf Pflanzen (manchmal auch auf Tiere) übertragen kann. Es galt daher, zwischen dem Kranken und der Heilpflanze eine „sympathetische“ Verbindung herzustellen; das heißt, die Pflanze an seinem Leiden teilhaben zu lassen.
Entweder besaß die Pflanze dann die stärkeren Kräfte und besiegte das Übel – oder sie ging ein. Damit „starb“ aber auch das Leiden, und der Kranke konnte wieder gesund werden.
Die Heilpflanze in üblicher Form anzuwenden war nicht nötig. Es reichte, wenn man in irgendeiner Form mit ihr in Kontakt trat. Möglichkeiten gab es viele. So konnten etwa Haare oder Fingernägel an einen Baum genagelt oder in ihm verborgen werden.
Mitunter brauchte es nicht einmal eine Pflanze. Das Symbol der Krankheit – zum Beispiel ein Wundverband – konnte auch (samt Zauberspruch) vergraben, ins Wasser geworfen oder verbrannt werden.
Man mag darüber lächeln, aber von psychosomatischen Behandlungen weiß man, dass solche Praktiken helfen können.
Was in der Volksmedizin bei welchem Leiden helfen sollte
Bei Fieber - ein Haar an den Baum Binden
Dass Weide und Holunder gegen Fieber helfen, ist eine altbewährte Erkenntnis nicht nur in der Volksmedizin. Beide waren aber genauso beliebt für „Sympathie-Kuren“. So wurde Fieberkranken empfohlen, abends zum Stamm einer alten Weide zu gehen, etwas Persönliches (ein Kleidungsstück oder ein Haar) an den Baum zu binden und so lange zu bleiben, bis der Fieberanfall vorbei ist. Da Weiden aber oft am Bachrand oder auf feuchten Wiesen wachsen, konnte dieser Rat die Krankheit auch verschlechtern.
Besser eignete sich da schon der Holunder, früher oft Flieder genannt. „Flieder“ nannte man den Holunder vor allem im Alpenland. Das hat leider schon immer zu vielen Irrtümern geführt und auch zu Ratschlägen, den duftenden Flieder (Syringea vulgaris) als Fiebertee zu verwenden. Der ist zwar nicht giftig, aber wirkungslos. Holunderblütentee dagegen senkt tatsächlich das Fieber und stärkt auch noch das Immunsystem.
Anreden sollte man den Holunder folgendermaßen:
Guten Morgen, Herr Flieder
Ich bring dir mein Fieber,
Ich binde dich an
Und geh jetzt in Gott’s Nam.
Um Linderung zu erfahren, musste dieses Sprüchlein allerdings in einer Nacht bei zunehmendem Mond aufgesagt werden, während man einen Bindfaden um einem Ast band. Da man damals außerdem der Meinung war, dass sich Judas an einem Holunderbaum erhängt habe, sollte auch diese Bitte helfen:
O Fliederbaum, du lieber,
Mich quält das arge Fieber.
Weil Judas sich an dir erhängt,
Sei jetzt das Fieber dir geschenkt.
Mit Fieber setzt sich die Sympathiemedizin überhaupt oft auseinander, vermutlich deshalb, weil man ihm dämonischen Ursprung zugeschrieben hat. Also versuchte man, christlichen Segen mit Sympathiezauber zu verbinden. Den Segen Ortus, Mortus, Christus Surrexit (Christus ist geboren, gestorben, auferstanden) für das „Kalt“ (also das Fieber) sollte man „uff neun salvenbletter schreiben. Wann dann der Mensch das kalt hodt, soll er der bletter alle morgen drew essen, drew tage nacheinander und fünf Paternoster, fünf Ave Maria und ein glauben (Glaubensbekenntnis) sprechen. Et sanabitur p.“ (Und er wird geheilt werden; das p. steht für probatum, also erprobt).
Ein einfacheres Rezept war, an neun Tagen hintereinander Salbeiblätter zu essen, wobei man mit neun Blättern beginnt und täglich um ein Blatt reduziert. Durch diese „Abnahme“ sollte auch das Fieber abnehmen.
Der Salbei (Salvia officinalis) war nicht nur in der Sympathiemedizin eines der am häufigsten erwähnten Mittel, er erfreute sich so großer Wertschätzung sowohl bei den Gelehrten als auch beim Volk, dass man sagte:
Wer auf Salbei baut,
den Tod kaum schaut.
Noch einen letzten Rat zur „Fieberprophylaxe“ aus dem Alpenland: Man konnte sich vor Fieber schützen, wenn man auf ein Papierblatt schrieb:
Fieber bleib aus,
I bin net z’haus.
Diesen Zettel musste man in einen Bach werfen und ihm nachschauen, solange er auf den Wellen trieb.
Bei Haarausfall - Klettern
Trauerweidenzweige
Die dünnen, dem Haar ähnlichen Zweige sowie deren schneller Wuchs inspirierten Menschen mit Haarproblemen, sich die Weide zunutze zu machen. Ganz Sportliche kletterten auf den Baum, um sich dort zu kämmen, weniger Aktive vergruben ihr Haar büschelweise zwischen den Wurzeln – all das in der Hoffnung auf üppige Lockenpracht.Der Botaniker und Arzt Lonicerus wiederum wusste folgenden kräuterkundlichen Rat:
Weidenblütenwasser ist gut zum Gesicht,
heilet den Grind auf dem Haupt,
machet das Haar schön und hübsch.
Bei Knochenbrüchen: ein Loch bohren
Etwas aufwendiger ist ein Ritual zur Heilung eines Knochenbruchs:
Ein frisch gelegtes, noch warmes Ei am Bruch reiben, an einer Eiche die Rinde etwas entfernen, ein Loch bis zur Mitte des Baumes bohren, das Ei hineinlegen und das Loch sorgfältig mit einem Ast verschließen. So wie das Loch langsam zuwächst, heilt auch der Bruch.
Tatsächlich gab es in der Volksmedizin viele „Boaheiler“, die Brüche einrenken konnten und mit Pechsalben sehr wirkungsvoll arbeiteten.
Bei Zahnweh: einen Kreis ziehen
Plinius schreibt in seiner „Naturgeschichte“ von einer Pflanze namens Senecio:
Sie bewirkt, dass derjenige, welcher mit einem Eisen einen Kreis darum zieht, sie dann ausgräbt, den (schmerzenden) Zahn damit berührt, abwechselnd dreimal ausspuckt und die Pflanze dann wieder an ihren Platz setzt, sodass sie fortgrünt, später niemals mehr an Zahnweh leidet.
All jenen, die glauben, sich solcherart den Zahnarzt ersparen zu können, sei gesagt, dass Senecio das Greiskraut ist, dem man früher eine blutstillende Wirkung zuschrieb, das heute aber als giftig gilt.
Nicht einfach umzusetzen ist folgender Ratschlag: Da der Zahnschmerz wie ein Blitz einfahren kann, sollte man ein Stück Holz von einem „Blitzbaum“, sprich einem Baum, in den der Blitz eingeschlagen hat, als Zahnstocher verwenden.
Leichter hatte es da schon, wer an „Mundfäule“ litt. Da brauchte man sich nämlich nur zwischen zwei oder drei Eichen aufzustellen, einen Zweig zu nehmen und dreimal an den geschlossenen Zähnen hin und her zu fahren, wobei dabei folgender Spruch zu denken war:
Mundfäul geh hin und wieder,
Geh aus alle meine Glieder
Und kimm nie wieder.Realistischer wäre, eine Rezeptur aus einem alten Kräuterbuch zu versuchen:
Eichenlaub, in Wein oder Wasser gesotten und getrunken, stillt Zahnweh und gibt ein gutes Wasser gegen Mundfäule.
Bei Warzen: einen Friedhof besuchen
Eine große Bedeutung in der Sympathiemedizin hatte das Vertreiben von Warzen. Sie werden auch heute noch als bedrohlich empfunden, vor allem wegen ihrer geheimnisvollen Herkunft. Warzen erscheinen plötzlich, beginnen zu „blühen“ und verschwinden dann meist von selbst, ganz egal, was man dagegen unternimmt.
Doch früher gab es kundige „Wender“, die viele Sprüche kannten, mit denen die Warzen „besprochen“ wurden. Meist wurde dabei auch Sympathiezauber angewandt.
Ein Beispiel: Zuerst zählt man genau, wie viele Warzen der Betroffene hat. Dann reißt man einen Holunderzweig ab und schneidet ebenso viele Kerben hinein. Dann wirft man den Zweig in einen Bach und ruft ihm nach: Holler, führ die Warzen weg!
Auch mit grünen Nüssen versuchte man einst, Warzen zu vertreiben. Man rieb die lästigen Auswüchse mit der Nuss ein und vergrub diese dann unter einer Dachtraufe.
Man konnte die Warzen aber auch unliebsamen Zeitgenossen weitergeben. Wenn ein mit Warzen Behafteter auf dem Friedhof drei tratschende Frauen traf, konnte er sich das Übel mit einem Spruch wegzaubern:
Ihr Tratschweiber,
nehmt meine Warzen mit heim.
Dass man mit dem Milchsaft einigerPflanzen wie dem Schöllkraut (Chelidonium majus), der Wolfsmilch (Euphorbia cyparissias) oder dem Löwenzahn (Taraxacum officinale) diese Warzen schrumpfen lassen kann, wussten die Kräuterfrauen früher sicher ebenso. Auch heute ist dieses Rezept noch gebräuchlich und man braucht eigentlich keinen Zauberspruch dafür, weil der Milchsaft eine nekrotisierende, also gewebszerstörende Wirkung auf die Warzen hat.
Sollte es aber trotzdem nicht helfen, könnte man doch noch bei einer alten Sympathie-Kur Anleihe nehmen: Ab dem dritten Tag im abnehmenden Mond die Warze mit dem Saft des Löwenzahnstängels bestreichen bis zum Neumond hin. So wie der Mond abnimmt, schrumpfen dann ganz sicher auch die Warzen.
Bei Gicht: Gedichte aufsagen
Vor allem von Bäumen meinte man, dass sie viel Kraft hätten, Krankheiten und Beschwerden zu übernehmen.
Fichte, liebe Fichtin,
Ich bring hier meine Gicht hin.
Der erste Vogel, der über dich fliegt,
Mache du, dass er sie kriegt.
Auch die Birke galt als Gicht-Heiler. Sie musste man allerdings um Mitternacht aufsuchen und sagen:
Ich stehe hier vor Gottes Gericht
und verknüpfe meine Gicht.
Alle Krankheit am Leibe
in dieser Birke bleibe.
Sollte das noch immer nicht geholfen haben, konnte vielleicht die Eiche dienlich sein:
Eichbaum, ich klage dir,
Die Gicht, die plaget mir,
Ich wünsche, dass sie mir vergeht
Und in dir besteht.
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